(Ent-)Demokratisierung der Demokratie [Kommentar]

von Armin Hentschel
Die Land- und Stimmengewinne der populistisch-rassistischen Strömungen sind für viele Menschen in Deutschland und Europa beängstigend. Das gilt nicht nur für die Intellektuellen dieser Länder. Manows Essay bemüht sich um eine Erklärung und er zeichnet einen Befund, der auf den ersten Blick nicht minder verstörend wirken dürfte: Die populistischen Trends seien (auch) eine Folge der Demokratisierung des politischen Diskurses und der Parteiendemokratie!
Stefan Groenebaum hat die Argumente für Manows These in seiner Besprechung gut zusammengefasst. Ich halte den Befund im Großen und Ganzen für richtig, auch wenn ich nicht in allen Punkten übereinstimme.
Manow hat seinen Essay noch vor dem zweiten Wahlsieg Trumps verfasst, der dem Trend weltweit die Krone aufgesetzt und die weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Konsequenzen des autoritativen Politiktrends sichtbarer macht. Es ist verdienstvoll, dass Manow sich um eine nüchterne – überwiegend ‚wertfreie‘ (nicht normative) Analyse /24/ ) bemüht. Er betont im Vorwort, „dass die Demokratisierungsthese ohne jede Wertung ist – eine demokratischere Demokratie wird hier nicht als per se als ‚bessere‘ Demokratie verstanden. Wer es wagt, so etwas zu schreiben, setzt sich dem Vorwurf aus, das erklärungsbedürftige Phänomen zu „verharmlosen“. Als jemand, der seit Jahrzehnten in der Politikberatung arbeitet, kenne ich die atmosphärischen Folgen dieses – wie ich finde – ‚Scheinarguments‘ nur allzu gut. Ebenfalls verdienstvoll ist Manows Kritik an der Selbstbeweihräucherung der etablierten Parteien, die sich öffentlich als Retter und einzige Garanten der Demokratie präsentieren, so, als ob sie nichts falsch gemacht hätten. Kurz: Ich habe den Text mit Gewinn gelesen.
Dennoch möchte ich die Diskussion über Manows Text um zwei kritische Bemerkungen erweitern. Die erste Kritik betrifft die These, dass es sich um eine Krise der ‚Repräsentation“ und nicht um eine Krise der Demokratie handelt. Die zweite bezieht sich auf die zwangsläufigen Grenzen der Integration menschlicher Gemeinschaften, die ich aus Manows Text herauslese.
Kritik 1: Krise der Repräsentation ?
Die These, dass wir es mit einer Kritik der Repräsentation zu tun haben, wird im akademischen Umfeld seit längerem diskutiert1. Falls man bei Repräsentation überhaupt von einem ‚Konzept‘2 reden kann, so hat es nach Hannah Pitkin drei Bestandteile: (a) Die formale Übertragung des Rechts zu handeln (Autorisierung), (b) die Schaffung von Körperschaften, die dieses Recht wahrnehmen dürfen und ‚für etwas – eine Idee, ein Programm… ‚stehen‘ und (c) die Übertragung des Rechts im Namen dieser formellen Gemeinschaft zu handeln. Stellt man diese Elemente in Rechnung, dann ist es schwer Demokratie hier und die in ihr immer enthaltenen Delegationsakte dort zu isolieren und gegeneinander zu stellen. Was bleibt übrig, wenn wir die ‚re- präsentativen‘ Elemente wegnehmen? An keiner Stelle, weder bei Parteitagen noch bei Parlamentsabstimmungen erheben alle Abstimmungsbefugten ihre Stimme. Es ist stets Delegation- und stellvertretende Re-Präsentation im Spiel; was immer das Risiko einschließt, dass die Wortführer sich von der Basis, die ihnen das Mandat gegeben hat, entfremden. Das Problem ist nicht auf parlamentarische Demokratien beschränkt. Marc Ferro hat einen vergleichbaren Prozess für die Anfänge der russischen Revolution beschrieben: Anfänglich war in den Fabrikausschüssen alle Welt versammelt. „Kaum war dann ein ständiger Delegierter ernannt, kamen die Leute schon seltener. Mit der Institutionalisierung, verkörpert im Funktionär und im Büro, kehrte sich alles um.“3Die Macht des Büros ersetzt sukzessive die direkte Mitwirkung. Der Prozess endete – wie wir wissen - in einer Parteidiktatur. Dabei muss berücksichtigt werden, dass nur ein Teil der russischen Gesellschaft zum damaligen Zeitpunkt alphabetisiert war.4 Warum dieser historische Rekurs? Bei Repräsentation handelt sich nicht um einen „Trick“ (Manow), der auf westliche Demokratien beschränkt ist und es ist auch kein Schachzug der Herrschenden, um das Volk an der direkten Artikulation seiner Interessen zu hindern. Die Herausbildung eines relativ autonomen Feldes der Berufspolitik mit eigenen Regeln ist das historische Ergebnis einer immer stärker ausdifferenzierten Arbeitsteilung in modernen Gesellschaften. Nicht alle Menschen wollen und können gleichzeitig einem Beruf nachgehen und ‚Politik machen‘.
Das bisher Gesagte ist nur ein Teil der Kritik. Für mindestens genauso wichtig halte ich etwas anderes: Ich glaube, wie Ulrich Sarcinelli5, dass die Konstruktion eines Gegensatzes von Repräsentation und medialer Präsentation sich einem Rationalitätsmythos verdankt, der dem Demokratiekonzept vieler Autoren, allen voran Jürgen Habermas, zugrunde liegt. Das Habermas’sche Deliberations-Modell folgt einem Ideal von ‚herrschaftsfreien Diskursen‘, die es bis heute in historischen Ausnahmesituationen und an wenigen Orten hin und wieder gegeben hat. Es folgt einem Ideal, das selbst im Feld der autonomen (=nicht-fremdbestimmten) akademischen Wissenschaft nicht immer die Regel ist.6 Aus diesem Grund lässt Habermas das real existierende deutsche Parlament als lobbyistisch verkommenes Repräsentationssystem auch rechts liegen. Repräsentation besteht aber nicht nur aus argumentativem Diskurs. Die Wahlkämpfe mit medialer Unterstützung durch Printmedien, TV, social media, und Internetplattformen, die Marktplatz- und Turnhallenauftritte von Parteienvertretern, die anonyme Abgabe des Wahlzettels nach Überprüfung des Wahlrechts in der Kabine, die anschließenden Verhandlungen über Koalitionen und Programme bis hin zu den eingespielten Parlamentsroutinen beinhalten stets Elemente von Repräsentation, die ohne Personen, Bilder, Rituale und das Erzeugen von Stimmungen nicht auskommen. Sie gehören zu den demokratischen Ritualen und es ist vermutlich nicht übertrieben, wenn man feststellt, dass das, was Bourdieu Habitus genannt hat, Gestik, Mimik, Tonfall und Sicherheit des Auftritts von Politikern mehr Wirkung bei den meisten Zuschauerinnen und -hörerinnen hinterlässt als der sachliche Gehalt ihrer Argumente.
Konsens: Der Wandel der innerparteilichen Demokratien
Ich lasse die wichtigen Unterschiede zwischen präsidialen Demokratien und Wahlrechtssystemen (Mehrheits – und Verhältniswahlrecht) einmal außen vor. Es sind vor allem die veränderten Prozesse der innerparteiliche Kandidatenauswahl, die eine erklärende Schlüsselrolle bei dem spielen, was wir mir mit Trump, Orban und Anderen auf der Weltbühne erleben. Die genaue Beschreibung dieser Veränderung halte ich für den wertvollsten Beitrag von Manows Buch. Obama hatte in den USA mit dem Einsatz von social media begonnen, seine Kampagne „Yes we can!“ zu organisieren und zu finanzieren. Manow beschreibt den Veränderungsprozess bei der Kandidatenkür und seine Elemente ausführlich. Das will ich hier nicht wiederholen. Drei Sachverhalte sind aus meiner Sicht hervorzuheben. (1) Das alteParteiestablishment verlor sowohl bei den Demokraten wie bei den Republikanern an Einfluss und Kontrolle auf und bei der Kür und Nominierung in den Vorwahlen. Ohne diesen Einflussverlust wäre ein Außenseiter wie Trump nicht an die Spitze gekommen. (2) 58 Prozent der Einnahmen des Wahlkampffinanzierung bei Trump stammten aus Kleinspenden bis 200 Dollar (Aufkommen aus Personenspenden insgesamt 239 Millionen Dollar). „Es war also nicht das große Kapital, (…) das hinter Trump stand.“/97/ (3) Auch nahezu alle führenden Zeitungen des Landes hatten sich wie z.B. die New York Times gegen Trump positioniert. Gestützt auf wenige Abtrünnige, auf social media, ausgewählte TV-Kanäle, eigene Internetplattformen und eine beispiellose Polarisierung, die auch die etablierten Medien zu ständiger Berichterstattung über den Populisten nötigten, bekam Trump die notwendige Aufmerksamkeit derjenigen, die die Masse ausmachten. Als Entdemokratisierung wird man diesen Prozess der Massenmobilisierung und Popularisierung wohl kaum angemessen bezeichnen können. Aus einer sehr großen Gruppe von Menschen, die empfänglich für einfache Erklärungen, Anti-Establishment-Stimmungen und „America-first-Parolen“ sind, rekrutierte sich die Unterstützung Trumps. Mit der Formel „antidemokratisch“ wird man die Strategie nicht bezeichnen können. Eher als das Gegenteil: Das Führungspersonal wird massenbasiert. Vergleichbare Muster der Mobilisierung und Kandidatennominierung zeichnet Manow für Corbyn und Macron nach.
Kritik 2: Die territorialen Grenzen der Demokratie
Nach dem formulierten Konsens im vorherigen Abschnitt nun die angekündigte zweite Kritik. Sie ist etwas grundsätzlicher und sie betrifft die künftige Handlungsausrichtung der Politik. Manows These ist, dass jede Demokratie notwendig territoriale Grenzen ziehen und damit auch Abschottung nach außen in Kauf nehmen müsse. Manow greift dafür auf Wendy Brown (2012) zurück: „Die Erosion der nationalstaatlichen Souveränität durch die Globalisierung und die Beschneidung der souveränen Macht der Nationalstaaten (sind) entscheidende Faktoren für die aktuelle Entdemokratisierung des Westens.“7 Die mit dieser These eröffnete Debatte betrifft auch die EU und kann in einer Buchbesprechung nicht angemessen ausgeführt werden. Nur zwei Einwände und Verweise an dieser Stelle:
(a) Die EU ist ein politischer und wirtschaftlicher Staatenverbund. Der politische Anstoß ist ‚zunächst‘8 aus den verheerenden Folgen von zwei Weltkriegen entstanden, die von konkurrierenden Nationalstaaten und ihrem Kampf um Vorherrschaft ausgingen. Das ‚Unikat EU‘ (Helmut Schmidt), ist das einmalige Ereignis friedlich ausgehandelter Souveränitätsverzichten von europäischen Nationen als Beitrag zur Kriegsvermeidung. Die damit verbundene Einschränkung nationaler Souveränität ist etwas anderes als die Unterwerfung europäischer Staaten unter die Folgen einer wirtschaftlichen Globalisierung, die man in der Blair- Schröde- Ära als „unvermeidlich“ bewertet hat. Der Primat der Ökonomie hat die Politik der europäischen Nationalstaaten zum Spielball finanzwirtschaftlicher Interessen gemacht, deren homebase die USA waren und sind. Der zuletzt genannte ‚unfreiwillige Souveränitätsverzicht‘ wird durch weltwirtschaftliche Prozesse diktiert, die unter US-Führung, dem Dollar als Weltgeld und dem Kalten Krieg zustande gekommen sind. Warum laufen denn derzeit so heftige Bemühungen um mehr Souveränität für Europa (nicht für Deutschland), die eine direkte Reaktion auf die militärische und wirtschaftliche (Zoll-)umklammerung der USA sind? Auch gegen die These, dass wir nach dem Zweiten Weltkrieg einen souveränen deutschen Nationalstaat hatten, ließe sich einiges an Tatsachen stellen. Dafür reicht hier der Platz nicht.
(b) Manows kritische Ausführungen über die auch im linken Spektrum bisweilen übliche Staats- und Parlamentsverachtung finde ich richtig. Das heißt jedoch nicht, dass man die historisch verhältnismäßig junge Integrationsebene des Nationalstaats zur historischen ultima ratio menschlichen Zusammenlebens erklären muss. Das Vereinigte Königreich und Frankreich, die beiden ersten Nationalstaaten haben für die innere Pazifizierung und die Bildung von Einheitsstaaten Jahrhunderte gebraucht. Warum begegnet man den zweifellos sehr unvollkommenen und beschädigten supranationalen Ansätzen zu einer Weltdemokratie wie dem Völkerrecht, der UN und dem Den-Haager Gerichtshof …etc. mit einer solchen Ungeduld oder sogar – wie Manow – mit der Behauptung eine Weltdemokratie ende zwangsläufig in der Tyrannei? Weil die USA, Russland und China sie jetzt als störend empfinden und maximale Beinfreiheit gegenüber internationalen Bindungen durch die WTO, das Völkerrecht und viele andere Vereinbarungen beanspruchen? Es ist sicher nicht gesund für uns Europäer, in das gleiche Horn zu stoßen!
(c) Was in Einwand b formuliert wird, thematisiert etwas Grundsätzliches, was ich in einem anderen Zusammenhang als ‚Janusgesicht unserer Zivilisation bezeichnet habe‘. Norbert Elias hat das nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs so formuliert: „In gegenwärtigen Nationalstaaten kann der mächtigste Kanon ein und derselben Gesellschaft den Zugehörigen einschärfen, dass der einzelne Mensch, das Individuum, als höchster Wert rangiere, und gleichzeitig, dass das souveräne Kollektiv, der Nationalstaat, der höchste Wert sei, dem alle individuellen Ziele und Interessen – dem selbst das physische Überleben der Individuen untergeordnet werden müsse.“ Die Bereitschaft, das eigene Leben oder das Leben der Kinder der nationalen Verteidigung zu opfern, demonstriert eindrucksvoll, wie mächtig und einflussreich dieser Normenkanon wirkt.
Was ‚nur‘ der Verteidigungsfall ist und kein Angriffskrieg, wer unter welchen Umständen der vernichtungswürdige Feind ist, was man präventive Verteidigung (1. Weltkrieg) nennt oder – wie Russland - ‚Spezialoperation‘…etc. das alles entscheiden im Ernstfall politische Führungen und nicht das Volk. Die nukleare Bewaffnung vieler Staaten und die sich abzeichnende Konfrontation von zwei weltumspannenden Machtblöcken macht die Fortsetzung der bisherigen Prozesslogik von Kriegen mit nachfolgender Pazifizierung unwahrscheinlich. Das, was wir bisher aus der Geschichte kannten, wird sich vermutlich nicht wiederholen. „Wir stehen vor der Wahl zwischen der weitgehenden Selbstzerstörung der Menschheit und der Abschaffung der Haltungen, die zu Kriegen als Mitteln der Lösung zwischenstaatlicher Konflikte führen.“ Die Bedrohungskulisse hat sich aufgrund der Konfrontation nuklear bewaffneter Mächte verändert; die lokale Begrenzung von Kriegen ist aufgrund dessen und wegen der weltweiten Vernetzung staatlicher Beziehungen schwieriger geworden. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass im Falle von Kriegen weite Teil dieser Erde in unbewohnbare und verseuchte Trümmerlandschaften mit Milliarden von Todesopfern verwandelt werden. Aber es geht nicht nur und nicht einmal in erster Linie um Abrüstung, so wünschenswert sie ist. Die größte Gefahr liegt in der Haltung der Menschen zueinander. Der Glaube an das absolut Gute der eigenen Sache und die Vortrefflichkeit der eigenen Nation mit ihren „Werten“ und an das absolut Böse der Gegenseite war und bleibt ein irrationaler Antreiber von Kriegen. Der Verhandlungsweg ist deshalb so illusionär er aus heutiger Sicht erscheinen mag – der einzige Weg. Das bedeutet vor allem ideologische Abrüstung.
Es ist schade, dass Manows gutes Buch dieses Janusgesicht von Nationalstaatlichkeit und nationaler Grenzziehung nach außen mitsamt den innewohnenden Gefahren nicht benennt oder vielleicht auch nicht sieht.
1 (vgl. zusammenfassend: Markus Linden, Winfried Thaa (Hrsg.), 2011, Krise und Reform politischer Repräsentation.
2 Der Begriff Konzept suggeriert nicht ganz realitätsgerecht, dass hinter der Entwicklung und Ausgestaltung stets ein zweckgerichteter bewusster Prozess stand. Die geschichtliche Entstehung der sehr unterschiedlichen Repräsentationssysteme zeigt jedoch, dass dahinter immer Kampf, situationsabhängige Kompromisse und befristet gültige Entscheidungen standen (vgl. Pierre Bourdieu, Über den Staat). Das föderale System der BRD hätte es ohne die Intervention der Alliierten, vor allem den USA, vermutlich nicht gegeben.
3 Pierre Bourdieu, Politik-Schriften zur Politischen Ökonomie 2, S. 39
4 Dabei muss berücksichtigt werden, dass nur ein Teil der russischen Gesellschaft zum damaligen Zeitpunkt alphabetisiert war.
5 Sarcinelli, Ulrich, Repräsentation und Präsentation, in: Linden/Thaa, 2011, S 75 ff.
6 vgl.: Hentschel, Armin, Grenzüberschreitungen-wissenssoziologische Skizzen zu Wissenschaft und Politik, Krieg, Migration und Finanzindustrie,, Marburg 2025)
7 Manow 2024, S. 155.
8 Die Einschränkung ‚zunächst‘ ist notwendig, weil das bei vielen Zeitgenossen in Vergessenheit geraten ist und eine gewichtige Strömung in Deutschland, die EU vor allem als Wirtschaftsprojekt betrachtet.