Im Zeitalter der Wölfe

Mit einem Doppelschlag ging am 6. November 2024 unsere liberal-kapitalistische Welt in die Brüche: erst gewann der autoritäre Populist Donald Trump haushoch die US-Wahl: den meisten Amerikanern war die eigene Brieftasche wichtiger als alle Abtreibungsgesetze und Artikel der New York Times zusammen. Und bei uns in Deutschland zerbrach die Ampel am Streit um die Schuldenbremse, die die nötigen Investitionen für unsere jahrzehntelang vernachlässigte Infrastruktur strangulierte.
Seitdem wankt die regelbasierte internationale Ordnung, das Recht des Stärkeren bricht sich Bahn: ob nun Putins Russland in der Ukraine, Netanjahus Israel in Gaza oder die Türkei Erdoğans in Syrien – drei sehr verschieden gelagerte Konflikte belegen, dass sich mächtige Staaten keinen Deut scheren um Weltgemeinschaft und Völkerrecht. Und Trump fordert schon vor seinem Amtsantritt den Anschluss Canadas und Grönlands an die USA und fünf Prozent Verteidigungsausgaben von allen Nato-Mitgliedsstaaten („they can afford it“).
Liberale Politik hilflos gegenüber Trump und Techbaronen
Als ob diese Aggressionen dieser Potentaten nicht für genug Unordnung sorgen, biedern sich nun Techbarone immer ungehemmter Trump und seiner Agenda an: zuletzt nannte Zuckerberg jede Begrenzung von hate speach und fake news „Zensur“ und will sich an X – Musks Schleuder für Hetze und krude Beschimpfungen - anlehnen. Der beleidigte mal eben unseren Bundeskanzler („unfähiger Idiot“), dann den Bundespräsidenten („Tyrann“). Als Ferda Ataman, Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes, die Regierung aufforderte, endlich von der Plattform zu gehen, „die ein Machtbeeinflussungsinstrument des reichsten Mannes der Welt geworden ist“, da antwortete Steffen Hebestreit, Sprecher der Bundesregierung: „wir müssen dahingehen, wo Menschen nach Informationen suchen.“ (1) Eine Kapitulationserklärung?! Dieser Logik entsprechend müsste die Regierung auch im rechtsextremen Compactblatt von Jürgen Elsässer auftreten. Ein Sprecher der Bundesinnenministerin ließ verlauten, man betrachte Musks Aussagen verharmlosend als die „einer Privatperson“. Eben eine „Privatperson“ mit weltweit 200 Millionen Followern, die mal eben so nebenbei auf seiner globalen Plattform ein Gespräch mit der AfD-Chefin Alice Weidel veranstaltet, für deren Wahl er offen wirbt. Nie wurde liberale Politik und Demokratie derart herausgefordert, nie ließ sie sich derart vorführen wie derzeit.
Rat- und Hilflosigkeit auch in der EU: Ob Musk und Zuckerberg gegen den „Digitale Services Act“ der EU verstoßen, wenn sie auf Faktenchecks und Prüfung von Aussagen verzichten, will die Kommission „genau prüfen“. Dabei haben beide Herren klar gesagt, dass sie auf diese Art von „Zensur“ künftig verzichten und stattdessen Usern freie Bahn lassen – für Hetze aller Art, wie man auf x besichtigen kann. Niemand hochrangiges in der EU will sich dazu äußern, die Kommissionspräsidentin sei krank, hieß es. Ihre Sprecherin ließ verlauten, man halte sich bewusst zurück, „um die Debatte nicht auch noch zu befeuern.“ Hinter vorgehaltener Hand wurde ausgesprochen, was jede/r weiß: die EU will es sich nicht mit dem neuen US-Präsidenten und seinen Tech-Buddies verderben. (2)
Probleme von draußen – und drinnen
Tatsächlich sind die Herausforderungen groß: neben massiven wirtschaftlichen Problemen in fast allen liberalen Gesellschaften gibt es Krisen und Kriege, Cyberattacken und Sabotageakte russischer Provenienz, gnadenlose Konkurrenz hoch subventionierter Produkte aus China auf den europäischen Märkten, Probleme der mangelnden Digitalisierung, Überalterung, Dekarbonisierung – und nicht zuletzt den Klimawandels. Wie ein Menetekel lag über Hollywood, der Traumfabrik des Westens, Anfang Januar der Brandgeruch der Großfeuer. Wie Marc Saxer schreibt: „Der alte Liberalismus kann seine Wohlstandsversprechen gegenüber der arbeitenden Mitte nicht mehr einlösen.“ Ihre Probleme – von Inflation bis Wohnungsnot – bleiben im Kern ungelöst. „Die marktradikale Agenda des Neoliberalismus beseitigte noch die letzten Reste sozialer Verantwortung, präkarisierte weite Teile der Arbeiterschaft und legte die Axt an den Wohlfahrtsstaat. Quer durch den Westen steigen die ausgezehrten Mittelschichten ab, explodiert die soziale Ungleichheit, und bildet sich eine plutokratische Oligarchie an der Spitze, die den sklerotischen Staat für ihre Zwecke instrumentalisiert … die schrillen Warnungen vor dem Ende der liberalen Demokratie klingen in den Ohren der Mehrheit auch deswegen so hohl, weil sie ahnen, dass ihre komatösen Republiken nur noch Fassaden für eine Plutokratie der Milliardäre sind.“ (3 - Marc Saxer, Neoliberalismus, kalifornischer Liberalismus, Neue Rechte und Sozialdemokratie, in: perspektiven ds. Zeitschrift für Gesellschaftsanalyse und Reformpolitik. Konfrontation und Kommunikation, Nr. 2/2024, S. 15)
Wölfe fressen Schafe – unter dem Jubel der Bauern
Und die scheinen mit Trump die Macht zu übernehmen: Ein Musk regiert mehr bei uns mit, als die gescheiterten Ampelparteien: es ist so, als sei eine neue Zeit der Wölfe gekommen: Im England der frühen Neuzeit vertrieben die Lords die Bauern von ihrem Land, um dort mit Schafen und Wolle hohe Profite zu machen. Der englische Lordkanzler Thomas Morus – ja, der „Utopia“ geschrieben hat – sagte dazu: „Schafe fressen Menschen auf“ – und wurde geköpft, weil er dem König zu schlau war. Heute fressen die Wölfe die Schafe auf - unter dem Jubel der Bauern: die kleinen Leute wählen massenhaft Superreiche an die Spitze, weil sie glauben, nur die könnten noch ihre Interessen durchsetzen. Das Superreiche andere Interessen haben als kleine Leute, hat man über all der seichten Unterhaltung und mangelhaften politischen Bildung, aber auch der jahrzehntelangen Entpolitisierung („Mutti macht das schon“) vergessen. Jahrelang hieß es, Deutschland sei Weltmeister in irgendwas und die anderen sollten gefälligst arbeiten lernen. Nun stellt die Mehrheit erstaunt fest: Das billige (Russen-)Gas ist weg, die Chinesen bauen bessere Autos, die Osteuropäer brauchen ihre Arbeiter selber und die US-Amerikaner wollen uns nicht mehr gratis verteidigen. Und die Bahn ist unpünktlich, Kitas und Straßen oft zu, die Mieten steigen, das Leben wird immer teurer.
Die Etablierten lenken die Wut darüber auf die paar Grünen und Linken, die noch etwas daran ändern wollen: Back to the fifties, heißt die Parole. Den Verbrenner, die Gas- und Ölheizung erhalten, predigen sie wider besseres Wissen. Wo es geht – wie in Berlin - werden selbst kleine Ansätze zur Energie- und Verkehrswende erstickt oder zurückgedreht. Dabei wissen heute selbst große Teile der Wirtschaft, dass es kein Zurück mehr gibt: als Friedrich Merz eine Abkehr von der Transformation predigte, traten ihm führende Konzernchefs entgegen: der Zug sei längst abgefahren. Und kürzlich erklärte Michael Hüter, Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft, die Steuersenkungspläne von Union und FDP seien „nicht gegenfinanziert“ und allein mit Sparen bei Sozialem oder Migration könnte man die nötigen Infrastrukturinvestitionen nie stemmen.
Nobelpreisträger: Mit „Weiter so“ ist die liberale Demokratie chancenlos
Wir erleben ein weltweites Ringen zwischen Kräften der Konfrontation und Gewalt und den – bisher schwächeren – der Kommunikation und Kooperation. „Es braucht eine Politik der Problemlösung, der Sicherheit, Resilienz und öffentlicher Güter, der guten und gut bezahlten Arbeit, der Umverteilung und des Sozialstaats – und all dies bei sozial durchdachter Ökologisierung.“ (4 - Ebda., Editorial von Kira Ludwig und Klaus-Jürgen Scherer, S. 5) Gelingt das nicht, werden immer mehr Staaten in die Hände schrecklicher Vereinfacher fallen, die das vermeintliche Zauberwort kennen: „America oderoder first“. Aber unsere Welt als Nullsummenspiel, als erneuter Playground „aller gegen alle“, „homo homini lupus“ (lat. der Mensch ist des Menschen Wolf) – wird unter den Bedingungen von acht Milliarden Menschen und dem Klimawandel ein schrecklicher Ort sein.
Darin Acemoglu, aktueller Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, hat sich mit einer aufsehenerregenden Warnung zu Wort gemeldet: Bei einem Weiter-so habe die liberale Demokratie keine Chance, sich gegen Diktatoren, Autoritäre und Populisten zu behaupten. Angesichts der drei Hauptprobleme der wachsenden sozialen Ungleichheit, des Populismus und der Verbindung von Technologie und Machtkonzentration müsse sich „die liberale Demokratie neu erfinden, um weiterhin relevant zu bleiben.“ Der Kern des Problems liegt für ihn „in der wachsenden Kluft zwischen den politischen Institutionen und den Bedürfnissen der Menschen. Eliten hätten sich zunehmend von der Bevölkerung abgekoppelt, während soziale Ungleichheit und wirtschaftliche Unsicherheit weltweit zugenommen haben.“
Acemoglu fordert übrigens für Deutschland dringend mehr Investitionen in Infrastruktur, Bildung und den grünen Wandel. Deshalb müsse die Schuldenbremse so reformiert werden, dass langfristige Investitionen von deren Begrenzungen ausgenommen werden: „Wenn es je eine Zeit gab, in der Investitionen Vorrang haben sollten, dann jetzt. Deutschland kann es sich leisten, strategisch zu investieren, ohne die Stabilität seiner Wirtschaft zu gefährden.“ (5)
Mehr Gleichheit und starke Institutionen können Demokratie retten
Acemoğlu ist optimistisch, dass Demokratien ihre Herausforderungen meistern können, wenn sie mutige Reformen auf folgende Kernpunkte konzentrieren: 1. Soziale Gerechtigkeit: Die Einkommens- und Vermögensungleichheit müsse reduziert werden, etwa durch progressivere Steuersysteme und eine Stärkung sozialer Sicherungssysteme. 2. Stärkung der Institutionen: Demokratische Institutionen wie Parlamente und Gerichte müssten vor politischer Einflussnahme geschützt und ihre Unabhängigkeit gewahrt werden. 3. Technologie für alle: Die Macht der Technologiekonzerne müsse reguliert werden, um sicherzustellen, dass digitale Innovationen der gesamten Gesellschaft zugutekommen. 4. Bildung und politische Teilhabe: Die Menschen müssten besser über die Funktionsweise der Demokratie informiert werden, um sich aktiv in politische Prozesse einzubringen. Fazit des derzeit weltweit zweithäufig zitiertesten Ökonomen: „Die Demokratie kann überleben, aber nur, wenn wir den Mut haben, die notwendigen Veränderungen anzugehen.“ (6)
Auch die Zivilgesellschaft muss wachsam bleiben
Aber Acemoglu adressiert seine Aufforderung nach Veränderung auch an die Zivilgesellschaft. Denn auch wir können etwas dafür tun, dass die liberale Demokratie in ihrer Substanz wieder befestigt wird: Wir müssen schon in unserem privaten Umfeld darauf achten, dass nicht das alte „Macht geht vor Recht“-Denken Raum greift, die in der deutschen Geschichte so verheerende Folgen gehabt hat. Die Verachtung des Parlaments als „Schwatzbude“ ist das eine, des „Systems“ eine andere: wir kennen das alles schon: erst haben die Nazis mit Worten die Weimarer Republik sturmreif geredet, dann haben sie sie mit Gewalt abgeschafft. Wir sollten die Errungenschaften der letzten Jahre, vor allem die Sensibilisierung für die Diskriminierung von Menschengruppen, seien es Frauen, People of Colour oder LSGBTIQ, anderen Religionen usw., verteidigen, anstatt sie gering zu schätzen. Es muss beides möglich sein: der Kampf für bessere materielle und ökologische Verhältnisse und der gegen Diskriminierung anderer. Der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in Tweets oder anderen Medien, im Gespräch usw. müssen wir sachlich, aber entschieden begegnen. Dabei gilt es, Haltungen zu ächten, nicht Menschen. Nicht sie sind unsere Gegner, wie Spalter es wollen, sondern Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus, -islamismus usw. Und wir sollten genau darauf achten, wie unsere Vertreter über uns und andere Minderheiten sprechen. Es gilt, den täglichen Versuchen zu spalten zu widerstehen. Das gilt auch und gerade für Parteien, die die Interessen anderer Staaten vertreten wie AfD und BSW.
Mehr sozialer Liberalismus und aktiveres Europa
Dazu sollte eine Reformpolitik kommen, wie sie von Acemoglu, Ludwig, Scherer und anderen gefordert wird: Marc Saxer beschreibt einen Liberalismus, „der nicht nur die politischen, sondern auch die wirtschaftlichen und sozialen Rechte der Bürger schützt, der die Monopole aufbricht und oligarchischen Einfluss auf die Republik zurückdrängt, der das Ende der westlichen Hegemonie versteht und mit dem Globalen Süden Partnerschaften auf Augenhöhe schmiedet, der zuhause den Rechtsstaat verteidigt und sich – ohne Doppelstandards – für eine regelbasierte internationale Ordnung einsetzt. Kurzum ein Liberalismus, der die Sorgen und Nöte der Bürger ernst nimmt und Antworten auf der Höhe der Zeit findet.“ (7 - Zitat siehe Anm. 3, S. 16)
Europa als friedliches und wohlhabendes Vorbild
Da hätten wir Europäer einen großen Vorteil gegenüber den imperialen Mächten, die derzeit die multipolare Welt wieder in Interessengebiete aufteilen wollen: wir sind „zu gut“ oder schlicht zu schwach für Imperialismus, wir wollen weder Grönland kaufen noch Canada oder Panama – oder uns den Donbass oder Gaza oder. – einverleiben. Wir wollen in Frieden leben und Handel treiben mit anderen, die das Gleiche tun. So können wir der großen Mehrheit im globalen Süden auf Augenhöhe begegnen. Und wenn es gut geht, wollen diese dann auch leben wie wir: wirtschaftlich und politisch. Nicht nur Eltern wissen: ein gutes Vorbild bringt mehr als viele Mahnungen und alle Drohungen.
All das setzt auch für Europa mutige Reformen voraus: Einstimmigkeit statt Vetomacht, eigenes Budget statt Abhängigkeit von Orban und Co. Es geht um mehr demokratische Teilhabe und Transparenz, nicht zurück zum Europa der Vaterländer. Die können die Probleme dieser Welt nicht lösen. „Europe first“, das wäre mal eine Innovation in unserem kleinen Kontinent, der genug nationale Alleingänge, Krisen und Kriege erlebt hat. Europa muss mehr sein als eine Handels- und Wirtschaftsvereinigung für eine reiche Elite. Das heißt auch, Europa muss sich gemeinsam verteidigen können – und wollen. Es ist (fast) unsere letzte Chance – nutzen wir sie.